Interview mit der Federação Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ)Das Interview basiert auf einem Interview der FARJ mit der Zeitschrift »Divergences« aus dem Jahr 2008 und wurde für die Herausgabe des Buches »Von Jakarta bis Johannesburg: Anarchismus weltweit« (Unrast, 2010) aktualisiert. Diese Version kann sich in sprachlichen Details von der im Buch enthaltenen Version unterscheiden und beinhaltet keine erklärenden Fußnoten. Seit wann gibt es die Federação Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ)? Die FARJ wurde am 30. August 2003 gegründet. Sie war das Resultat eines Prozesses in Rio de Janeiro, der Jahrzehnte zuvor eingeleitet worden war. Das Ziel zur Zeit der Gründung war es, eine anarchistische Organisation aufzubauen, die danach strebte, das »soziale Moment«, das im brasilianischen Anarchismus in den 1930er Jahren verloren gegangen war, wieder zu beleben. Unsere Prinzipienerklärung definiert die Grundsätze, an denen wir uns orientieren: Freiheit, Föderalismus, Internationalismus, Selbstverwaltung, direkte Aktion, Klassenbewusstsein, gegenseitige Hilfe, praktische Intervention und moralische Verantwortlichkeit. Was meint ihr mit dem »sozialen Moment«? Als »soziales Moment« des Anarchismus bezeichnen wir die Präsenz des Anarchismus in sozialen Bewegungen und in Klassenkämpfen. Wie Errico Malatesta betonte, müssen AnarchistInnen überall präsent sein, wo die Widersprüchlichkeiten des Kapitalismus deutlich werden, wenn sie zu libertärer gesellschaftlicher Transformation beitragen wollen. Das war der Grund, warum AnarchistInnen in Brasilien in die Gewerkschaften gingen, und das zunächst erfolgreich: am Anfang des Jahrhunderts war der Anarchismus stark mit dem revolutionären Syndikalismus verbunden. Dies änderte sich in den 1930er Jahren, als der Staat die Gewerkschaften vereinnahmte, die Repression der Behörden zunahm und der Bolschewismus Erfolge feierte. Außerdem wurde der Syndikalismus zunehmend als Selbstzweck betrachtet und das Ziel spezifischer anarchistischer Organisation aufgegeben. Damit verlor der Anarchismus seine gesellschaftliche Relevanz und zog sich in anti-klerikale Bewegungen, in Kultur- und Sozialzentren, in Schulen, in Redaktions- und Theaterkollektive und Ähnliches zurück. Die Präsenz des Anarchismus in diesen Bereichen ist natürlich auch von Bedeutung, aber anarchistische Politik ist viel effektiver, wenn sie mit wirklichen sozialen Bewegungen verknüpft ist. Ohne Anbindung an konkrete gesellschaftliche Praxen ist es nicht möglich, anarchistische Agitation in der Form zu betreiben, in der sie nötig ist. Unser Ziel ist es, diese Anbindung wieder herzustellen. Nachdem Organisation für euch wichtig zu sein scheint: wie organisiert ihr euch? Wir sind stark vom especifismo beeinflusst, wie er von der Federacion Anarquista Uruguaya (FAU) formuliert wurde. Entscheidende Punkte dabei sind: das Prinzip der Organisierung selbst; die Organisation als aktive Minderheit; Einheit in Theorie und Praxis; theoretische Entwicklung; gesellschaftliche Arbeit und gesellschaftlicher Einfluss; Anarchismus als Instrument des Klassenkampfs mit libertär-sozialistischen Zielen; die Differenzierung zwischen politischer Aktion (die in der anarchistischen Organisation verankert ist) und sozialer Aktion (die in den sozialen Bewegungen verankert ist); strategische Militanz. Wir denken, dass Arbeit ohne Organisation – Arbeit, wo alle das tun, was sie wollen, ohne klares Ziel und oft isoliert – ineffizient ist. Das Organisiert-Sein erlaubt es uns, in sozialen Bewegungen und Gewerkschaften eine Rolle zu spielen. Unsere Aufgabe ist dabei, diese Bewegungen und Gewerkschaften so libertär wie möglich zu gestalten. Im Unterschied zu »leninistischen Avantgarden« streben wir jedoch nicht nach besonderen Positionen oder Privilegien, zwingen niemandem unseren Standpunkt auf und kämpfen nicht für die sozialen Bewegungen sondern mit ihnen. Wo lässt sich die FARJ in der Geschichte des Anarchismus in Brasilien verorten? Ein wichtiger Bezugspunkt für uns ist Ideal Peres. Sein Vater war ein anarchistischer Schuhmacher, der von Spanien nach Brasilien kam und sich gewerkschaftlich genauso engagierte wie in anti-klerikalen Bewegungen und im antifaschistischen Kampf. Er war eine wichtige Figur im »Kampf um die Kathedrale« 1934, als eine Koalition von SozialistInnen den faschistischen integralistas unter Maschinengewehrbeschuss trotzte. Ideal Peres wurde 1925 geboren und war nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen libertären Projekten aktiv, unter anderem im Centro de Estudos Professor José Oiticica (CEPJO), wo anarchistische Kurse und Vorlesungen stattfanden. Das CEPJO wurde 1969 von den Schergen der Diktatur geschlossen und Peres für einen Monat eingesperrt. Nach seiner Freilassung organisierte er Studienzirkel bei sich zuhause. Sein großes Ziel war es, das Interesse der Jugend am Anarchismus zu wecken. Dazu gehörte auch, verschiedene Generationen brasilianischer AnarchistInnen zusammenzuführen. Auf dieser Basis wurde 1985 von ihm und seiner Lebensgefährtin Esther Redes der Círculo de Estudos Libertários (CEL) in Rio de Janeiro gegründet, der bis 1995 existierte. 1991 gründete dieser Kreis die Zeitschrift Libera … Amore Mio, die bis heute existiert. Der Großteil der GenossInnen, die in der FARJ aktiv sind, stießen in Ideal Peres' Haus oder im CEL auf den Anarchismus, der nach Peres' Tod in Círculo de Estudos Libertários Ideal Peres (CELIP) umbenannt wurde. CELIP spielte eine große Rolle für die Gründung der FARJ im Jahr 2003. Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen den frühesten Aktivitäten von Ideal Peres und unserer Organisation. Hat die FARJ enge Kontakte mit anderen anarchistischen Gruppen in Brasilien? Es gibt einige Organisationen, zu denen wir gute Beziehungen haben, zum Beispiel die Federação Anarquista Gaúcha, die Organização Resistência Libertária oder die Federação Anarquista de São Paulo. Wir versuchen aber auch ganz allgemein, gute Kontakte mit AnarchistInnen in Brasilien zu pflegen, unabhängig von ihrer spezifischen Ausrichtung. Es gab in letzter Zeit sogar eine Annäherung an die Gruppen im Fórum do Anarquismo Organizado (FAO), mit der es vor einigen Jahren in Zusammenhang mit Organisationsfragen zu stärkeren Auseinandersetzungen gekommen war. Eine wichtige Rolle spielt unsere Zeitschrift Libera, mit der wir viele AnarchistInnen erreichen, die relativ isoliert in kleinen Städten leben. In der Biblioteca Social Fábio Luz, die ein Teil des Centro de Cultura Social ist, treffen wir regelmäßig GenossInnen aus dem ganzen Land, die Interesse an unserer Arbeit haben. Dort machen wir auch die Publikationen anderer anarchistischer Gruppen der Öffentlichkeit zugänglich. Zudem haben wir Bemühungen unterstützt, an anderen Orten Organisationen zu gründen, die sich an der FARJ orientieren, beispielsweise die Grupo de Estudos das Idéias e Práticas Anarquistas in Florianópolis und die Pró-Coletivo Anarquista Organizado in Joinville. Ist es richtig zu behaupten, dass sich der Anarchismus in Brasilien vor allem auf Rio de Janeiro und São Paolo konzentriert? Auf jeden Fall ist noch Porto Alegre zu nennen, und zwar seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Was eine kontinuierliche Präsenz von AnarchistInnen betrifft, so gab es diese jedoch nur in diesen drei Städten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren AnarchistInnen allerdings auch in Santos, Recife, Belém, Curitiba und Petrópolis stark. In den letzten Jahrzehnten hat auch Salvador eine bedeutende Rolle gespielt, vor allem in Zusammenhang mit der 1977 gegründeten Zeitschrift Inimigo do Rei. Ihr habt den especifismo als wichtigen theoretischen Bezugspunkt erwähnt. Gibt es andere? Wir erwähnten bereits Malatesta. Wichtig ist auch das Vermächtnis des magonismo. Und wir studieren natürlich die anarchistischen Klassiker wie Pierre-Joseph Proudhon, Michael Bakunin und Peter Kropotkin sowie die anarchistischen Aktivitäten in der Russischen und in der Spanischen Revolution. Was sind eure Ziele und Perspektiven? Wir betrachten uns als eine revolutionäre Organisation, das heißt, unser langfristiges Ziel ist die soziale Revolution und die Schaffung eines libertären Sozialismus. Die Ziele für die Gegenwart sind: die Fortsetzung unserer Arbeit in den Betrieben; der Ausbau unserer Beziehungen zu sozialen Bewegungen in Rio de Janeiro; die Intensivierung unserer Arbeit innerhalb des Centro de Cultura Social; stärkere Konzentration auf ökologische und landwirtschaftliche Zusammenhänge; das Erschließen neuer Betätigungsfelder; das Anwerben neuer Mitglieder; politische Schulung; Ausbildung innerhalb der Organisation; Öffentlichkeitsarbeit. Wie würdet ihr die gegenwärtige anarchistische Bewegung in Brasilien beschreiben? Im Moment können wir nicht wirklich von einer anarchistischen Bewegung in Brasilien sprechen. Es gibt dafür zu wenig Vernetzung, Kommunikation und politische Einheit. Es gibt jedoch ein Wiederaufleben des Anarchismus seit den 1980er Jahren. Das Ende der Militärdiktatur erlaubte AnarchistInnen, die lange im Untergrund waren, wieder offen zu arbeiten, und es entwickelte sich auch eine neue Generation von AnarchistInnen. Der Anarchismus zog bald einiges an öffentlicher Aufmerksamkeit auf sich. In den 1990ern intensivierten sich die Diskussionen zu Organisationsfragen, Schwerpunkten der politischen Tätigkeit usw. Dies hatte eine gewisse Ausdifferenzierung zur Folge: es kam zu Spaltungen und der Gründung spezifischer Gruppen. Einige dieser Gruppen, wie die FARJ, folgten den Ideen des especifismo. Andere orientierten sich eher an einem Modell der »Synthese« nach dem Vorbild der Fédération Anarchiste in Frankreich. Außerdem gibt es auch einen »Lifestyle«-Flügel. Was meint ihr mit »Lifestyle«-Flügel? Wie stark ist dieser? Wir verwenden den Begriff im Sinne Murray Bookchins. Wir meinen damit Gruppen und Individuen, die vor allem subkulturell verankert sind. Wir beschränken uns hier jedoch rein auf politische Kritik, nicht auf persönliche. Wir wollen nicht zu Spaltungen der anarchistischen Szene beitragen. Von diesen profitiert nur die herrschende Klasse. Unsere politische Kritik ist, dass die AnhängerInnen dieser Tendenzen durch ihren Individualismus, ihre Organisationsskepsis, ihre Glorifizierung von »Spontaneität« und ihre Aburteilung des Klassenkampfs als »veraltet« den Anarchismus von den sozialen Bewegungen trennen. Im besten Falle gelingt es ihnen, eine Kritik kapitalistischer Massenkultur zu formulieren, aber letztlich ist ihre Weltanschauung eine Spielart des Liberalismus. Zahlenmäßig ist dieser Flügel größer als unserer. Aber er teilt sich in viele kleine Gruppen auf, die in ihren Ghettos ein isoliertes Dasein fristen, ohne in irgendeiner Form gesellschaftlich Einfluss zu nehmen. Wir, die VerteidigerInnen eines sozialen Anarchismus, werden von ihnen ständig kritisiert, manchmal sogar verleumdet. Aber wir wollen mit Konflikten dieser Art nichts zu tun haben und sind an keiner Konfrontation interessiert. Insofern ignorieren wir diese Anklagen in der Regel. Was versteht ihr unter »sozialem Anarchismus«? Der soziale Anarchismus ist für uns ein breiteres Konzept als der especifismo. Er konzentriert sich, wie der Name bereits sagt, auf soziale Fragen. Dabei kann er anarchosyndikalistische, anarchokommunistische und auch rätekommunistische Formen annehmen. Er steht individualistischen und anti-sozialistischen Tendenzen innerhalb des Anarchismus gegenüber. Habt ihr mit euren Aktivitäten Erfolg? Erfahrt ihr Zuspruch in breiteren Bevölkerungsschichten? Ich denke, dass unsere Arbeit im Allgemeinen gut aufgenommen wird. Es ist wesentlich für uns, keine Autoritarismen zu reproduzieren, was leider auch in anarchistischen Gruppen immer wieder geschieht. Bescheidenheit und die Fähigkeit zuzuhören sind wichtig, wenn wir wollen, dass uns Leute mit Respekt und Offenheit begegnen. Wir müssen mit anderen Menschen gemeinsam arbeiten und dürfen nicht versuchen, ihnen unseren Willen aufzuzwingen. Das ist es, was wir unter dem Prinzip »moralischer Verantwortlichkeit« verstehen. Wie gesagt, ich denke, dass wir mit unserer Arbeit auf dieser Basis durchaus Erfolge verzeichnen können: wir werden von vielen Menschen und sozialen Bewegungen positiv aufgenommen und sind explizit in ihren Zusammenhängen erwünscht. Kommen anarchistische AktivistInnen in Brasilien aus allen gesellschaftlichen Gruppen? Die Mehrheit der anarchistischen Gruppen setzt sich aus StudentInnen und ArbeiterInnen zusammen. Die meisten AktivistInnen gelten im brasilianischen Kontext als »weiß«, einige als »schwarz« und beinahe keine kommen aus anderen ethnischen Gruppen wie z.B. indigenen Gemeinschaften. Es sind mehr AktivistInnen in der Mittelschicht aufgewachsen als in der Unterschicht. Das Alter variiert stark. In der FARJ finden sich Mitglieder, die 20 Jahre alt sind, genauso wie solche, die 50 Jahre alt sind. Es sind mehr Männer als Frauen aktiv. Der Anarchismus in Brasilien scheint eher ein urbanes Phänomen zu sein. Wie sieht es mit Verbindungen zu LandarbeiterInnen, landlosen Bäuerinnen/Bauern und indigenen Gesellschaften aus? Zunächst: der Eindruck stimmt. Der brasilianische Anarchismus war immer schon eher urban als ländlich orientiert. Das heißt aber nicht, dass anarchistische Gruppen keine Kontakte zur Landbevölkerung haben. Beispielsweise gibt es gute Kontakte zum Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra [Bewegung der Landlosen] (MST). Ein Genosse der FARJ trifft sich immer wieder mit MST-AktivistInnen, um anarchistische Ideen zu diskutieren. Unseres Wissens gibt es innerhalb der MST – vor allem an der Basis – große Sympathien für anarchistisches Gedankengut und anarchistische Geschichte, im Speziellen für Magón und die Mexikanische Revolution. Alles in allem aber bleibt unser Einfluss in ländlichen Gebieten um vieles schwächer als in den Städten. Habt ihr Kontakte zu nicht-anarchistischen Gruppen der radikalen Linken in Brasilien? Das hängt davon ab, was man unter der »radikalen Linken« versteht. Wir haben keine Kontakte zu TrotzkistInnen oder zu bolschewistischen Parteien, aber wenn es um soziale Bewegungen geht, so arbeiten wir mit allen möglichen Gruppen zusammen. Außer zum MST gibt es enge Verbindungen mit dem Movimento dos Trabalhadores Sem-Teto [Bewegung der Obdachlosen] (MTST) und dem Movimento dos Trabalhadores Desempregados [Bewegung der Arbeitslosen] (MTD). Wir unterzeichneten auch Aufrufe und Erklärungen gemeinsam mit nicht-anarchistischen Gruppen. Wir sind nicht sektiererisch und versuchen dort, wo es möglich ist, mit Menschen und Organisationen unterschiedlichster Ausrichtung zusammenzuarbeiten – wobei wir unseren Prinzipien immer treu bleiben und uns der ideologischen Differenzen bewusst sind. Könnt ihr noch etwas mehr zur MST sagen, für die sich AktivistInnen in Europa zunehmend interessieren? Viele AnarchistInnen, aber auch autoritäre SozialistInnen, denken, dass das MST von einer leninistischen Avantgarde geführt wird. Wir haben einen anderen Eindruck. Wir denken, dass sie eine autonome Bewegung ist, die wirklich die ausgebeuteten Klassen repräsentiert. Ja, es gibt sowohl leninistische als auch reformistische Tendenzen, aber letztlich geht es im MST vor allem darum, Land zu besetzen. Die Bewegung kämpft gegen das Privateigentum, eine Säule der kapitalistischen Herrschaft, und sie tut dies erfolgreich. Ähnliches gilt für MTST und das MTD, deshalb arbeiten wir auch mit diesen Bewegungen zusammen. Gibt es eine starke Repression gegen AnarchistInnen in Brasilien? Der Anarchismus als solcher wird nicht wirklich unterdrückt. Solange er vielfach isoliert bleibt und lediglich als »Lifestyle« ohne gesellschaftliche Sprengkraft dient, braucht sich die Regierung nicht um ihn zu kümmern. Es sieht anders aus für jene AnarchistInnen, die wirklich gesellschaftlich aktiv sind. Die Repression, die du erfährst, steht immer im Verhältnis zu deinem gesellschaftlichen Einfluss. Das gilt auch für Brasilien. Anarchismus wird nicht als Gedanke unterdrückt, sondern als Instrument des Kampfes. Habt ihr viele internationale Kontakte? In Lateinamerika können wir folgende Organisationen nennen: die Alianza Magonista Zapatista sowie das Colectivo Autônomo Magonista in Mexiko; die Pró-Federação Anarquista in Costa Rica; die Federação Anarquista Uruguaya und das Colectivo Pro-Organización Socialista Libertaria in Uruguay; das Red Libertária, die Organización Socialista Libertaria und die Frente Popular Dario Santillán in Argentinien; die Organización Comunista Libertaria und andere Gruppen in Chile; das Red Libertária Popular Mateo Kramer in Kolumbien; die Gruppe Qhispikay Llaqta und die Union Socialista Libertaria in Peru; die Zeitschrift El Libertário in Venezuela. Außerhalb Lateinamerikas sind zu nennen: die Zabalaza Anarchist Communist Front in Südafrika; die Federazione di Comunisti Anarchici in Italien; das Workers Solidarity Movement in Irland, die North Eastern Federation of Anarchist Communists in den USA und Kanada; Liberty and Solidarity in England; CNT-Vognoles und Fédération Anarchiste in Frankreich; das CIRA in der Schweiz. Ihr habt zuvor von einem Wiederaufleben der anarchistischen Bewegung in Brasilien seit den 1980er Jahren gesprochen. Gilt das auch für Lateinamerika insgesamt? Unser Eindruck ist, dass die Anzahl an AktivistInnen und Gruppen nicht signifikant gestiegen ist. Allerdings organisieren sich diese Gruppen zunehmend besser, was die Bewegung stärkt und gesellschaftlich einflussreicher macht. Für uns ist das Wiederaufleben eher qualitativ als quantitativ. Gibt es signifikante Unterschiede zwischen dem Anarchismus in Lateinamerika und dem in Europa? Wir denken, dass es zwischen den Bewegungen in Lateinamerika und Europa viele Gemeinsamkeiten gibt. Die ideologischen Grundüberzeugungen sind dieselben. Aber die gesellschaftlichen und historischen Kontexte unterscheiden sich. Die Herausforderung, die sich stellt, ist es, den Anarchismus seinem jeweiligen Kontext gerecht Ausdruck zu verleihen. Hier in Brasilien bedeutet das beispielsweise, der Kolonialgeschichte und der Geschichte der Sklaverei Rechnung zu tragen. Zusätzliche Unterschiede zu Europa sind eine geringere Akzeptanz der Staatsmacht, größere soziale Gegensätze sowie stärkere Auswirkungen neoliberaler Globalisierung. Dazu kommen grundlegend andere Erfahrungen mit Revolution und sozialen Bewegungen sowie kulturelle Gegensätze. Aber wir denken, dass all dies eher strategische als ideologische Konsequenzen hat. Viele lateinamerikanischen Länder haben heute linksgerichtete Regierungen – oder zumindest wird von ihnen behauptet, dass sie es seien. Neben Lula in Brasilien gibt es Morales in Bolivien, Chávez in Venezuela und andere. Wie analysiert ihr diese Entwicklung? Wir betrachten diese Welle »linker« Regierungen als Teil kapitalistischer Wellenbewegungen. All diese Regierungen werden auf der Basis eines progressiven Populismus gewählt, während das Kapitel weiterhin von ökonomischen Eliten gemanagt wird. Wir sagen nicht, dass eine Diktatur das Gleiche ist wie eine parlamentarische Sozialdemokratie, das wäre völliger Unsinn. Wir stehen jedoch der Institutionalisierung radikaler sozialer Bewegungen sehr skeptisch gegenüber. Dadurch gehen nicht nur Aktionsmöglichkeiten verloren, sondern es wird der Regierung auch erlaubt, sich als besonders progressiv zu präsentieren. Aber das ist eine Lüge. Auch wenn Lula beispielsweise für einen stärkeren sozialen Schutz der ärmsten Schichten sorgt, richtet sich sein ökonomischer Kurs nach den Interessen der Banken und dem transnationalen Kapital – er unterstützt damit eine Politik, die Armut erzeugt. Wir sehen uns in der gegenwärtigen Lage dazu herausgefordert, nuancierte Analysen zu formulieren, da die Widersprüche des Kapitalismus immer mehr maskiert werden. Wir müssen als AktivistInnen dementsprechende Studien betreiben. Mit der Antiglobalisierungsbewegung wurde das Modell der »partizipatorischen Demokratie«, das in Porto Alegre erprobt wurde, sehr bekannt. Was ist eure Meinung zu diesem Modell? Wir denken, dass jedes System der Demokratisierung, sei es nun im privaten Bereich, in einem Betrieb oder auf Regierungsebene wie in Porto Alegre, von unten kommen muss bzw. von den am meisten ausgebeuteten Klassen, damit Entscheidungen in deren Interesse garantiert werden. Im Demokratiemodell Porto Alegres ist es immer noch die Regierung, die von oben die Menschen fragt, was sie wollen, ohne an ihre Wünsche gebunden zu sein. Genauso verhält es sich in Betrieben, in denen ArbeiterInnen als BeraterInnen des Managements herangezogen werden. Wirklich basisdemokratische Entscheidungsstrukturen sehen anders aus. In diesen beraten Menschen keine EntscheidungsträgerInnen, sondern entscheiden selbst. Wie gesagt, jede demokratiepolitische Änderung, die den Einfluss der Menschen auf die Entscheidungsprozesse erhöht, hat ihre positiven Dimensionen – aber beim Modell Porto Alegres stehen zu bleiben, wäre viel zu wenig. In Europa wird Brasilien entweder mit touristischen Klischees von der Copacabana und dem Karneval in Verbindung gebracht oder mit Slums, Drogenhandel, Gewalt und Elend. Wie würdet ihr die Realität im Land beschreiben? Brasilien ist so groß wie mancher Kontinent. Es ist flächenmäßig das fünftgrößte Land der Erde, hat 26 Bundesstaaten und macht fast die Hälfte von ganz Lateinamerika aus. Es hat 180 Millionen EinwohnerInnen und die Volkswirtschaft ist die größte Lateinamerikas mit einem Bruttoinlandsprodukt von etwa anderthalb Trillionen US-Dollar. Dennoch ist es ein Land mit schwerwiegenden sozialen Problemen. Beispielsweise ist das durchschnittliche Einkommen der reichsten zehn Prozent des Landes 28 Mal höher als jenes der ärmsten vierzig Prozent. Das ist eine Rate, die dreimal so hoch ist wie in Argentinien und doppelt so hoch wie in Kolumbien. Dreißig Prozent der BrasilianerInnen sind von extremer Armut betroffen. Die Arbeitslosenrate beträgt zehn Prozent, es gibt einen chronischen Mangel an Wohnraum – nicht zuletzt aufgrund ausgeprägter Immobilienspekulation, die Abertausende von Wohnungen leerstehen lässt. Das Gesundheits- und das Transportsystem sind schlecht ausgebildet. Kurz, Brasilien ist ein reiches Land mit einem tiefen Graben zwischen den wenigen, die diesen Reichtum auskosten, und den vielen, die unter dieser Ungerechtigkeit zu leiden haben. Das Problem der Slums und des Drogenhandels konzentriert sich vor allem auf Rio de Janeiro. Während es beispielsweise in São Paulo »soziale Säuberungen« gibt, welche die Armen immer weiter aus der Innenstadt vertreiben, ist das in Rio aufgrund der geographischen Bedingungen (Rio ist von Hügeln umgeben) nicht möglich. Die Mittel- und Oberschicht sind also viel unmittelbarer mit der Armut konfrontiert. In vielen der vom Staat vernachlässigten Slums ist gleichzeitig ein Machtvakuum entstanden, das von einer Art brasilianischer Mafia gefüllt wird, die nach rein kapitalistischen Prinzipien operiert und extrem hierarchisch und autoritär ist. Kriminalität ist für die Menschen in den Slums oft die einzige Möglichkeit, an etwas Geld zu kommen und damit an Waren und Dienstleistungen. Gleichzeitig werden diese Menschen von kriminellen Syndikaten beherrscht und unterdrückt, die gewissermaßen Mikrostaaten in den Slums geschaffen haben. Ein Schlusswort für eure internationalen GenossInnen? Wir möchten uns für die Unterstützung, die uns von vielen internationalen Gruppen und Organisationen entgegengebracht wird, bedanken, und wir hoffen, so viele Kontakte wie möglich mit GenossInnen aufbauen zu können, die wie wir für den sozialen Anarchismus kämpfen! * Die Federação Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ) gründete sich 2003 und stellt gegenwärtig eine der aktivsten anarchistischen Gruppen in Brasilien dar.
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