Straight Edge in der Linken

Dieser Text erschien in print im Syndikal 2018, dem "Kalender für das Ende der Lohnarbeit", herausgegeben von den lieben Genoss*innen des Syndikat-A Medienvertriebs.

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In seiner einfachsten – und weitgehend so akzeptierten – Variante bedeutet Straight Edge, keinen Alkohol, kein Nikotin und keine (anderen?) Drogen zu konsumieren. Wahlweise lässt sich die Liste gescheuter Substanzen auf Koffein, Zucker oder Schokolade ausdehnen. Auch Promiskuität gilt manchen als nicht straight edge, während andere meinen, dass Straight Edge mit unserem Sexualverhalten gar nichts zu tun hätte. Die Geister scheiden sich auch, wenn es um den Veganismus geht: für die einen ein wesentlicher Bestandteil von Straight Edge, seit die Szene Anfang der 1990er Jahre vom „Vegan Straight Edge“ dominiert wurde, für die anderen mehr oder weniger bedeutungslos. Viel hängt davon ab, welcher Aspekt der Straight-Edge-Identität am stärksten betont wird: Gesundheit, Unabhängigkeit, Verantwortung – oder alles irgendwie zusammen? Diskussionen darüber, wie straight edge stundenlanges Facebook-Surfen oder fanatisches Krafttraining sind, können unterhalten, sind aber eher akademischer Natur.

Dass man – egal in welcher Version – in linken Zusammenhängen immer wieder auf Straight Edge stößt, mag verblüffen. Zu deutlich wirken die Parallelen zu einem moralistischen Puritanismus, der in religiösen Sekten oder wertkonservativen Kreisen besser aufgehoben scheint. Es ist kein Zufall, dass Alkohol- und Zigarettenkonsum bis heute eine wichtige Markierung sein können, um sich gegen repressive Sozialstrukturen aufzulehnen. Zudem wirkt Enthaltsamkeit nicht besonders sexy, gerade in einer Zeit, in der viele Linke Befreiung gerne mit Hedonismus verwechseln.

Historisch gesehen ist Abstinenz der Linken alles andere als fremd. Die populäre Erzählung vom feuchtfröhlichen Rausch als Teil der Arbeiterkultur ist nur die halbe Wahrheit. Organisationen der Arbeiterbewegung, die früh gegen den Alkoholkonsum Stellung bezogen, reichen von den Knights of Labor in den USA bis zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich. In ganz Europa gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Arbeiterabstinenzbünde und die ersten Jahre der Russischen Revolution waren von intensiven Anti-Alkoholkampagnen geprägt. Abstinenz wurde von vielen als Voraussetzung einer schlagkräftigen Arbeiterklasse betrachtet. Feministische Bewegungen verwiesen auf die Zusammenhänge zwischen Alkoholkonsum, patriarchalen Familienverhältnissen und häuslicher Gewalt. Auch namhafte deutschsprachige Anarchisten problematisierten den Alkoholkonsum, unter ihnen Pierre Ramus, Franz Prisching und Franz Pfemfert.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs verlor die Abstinenzbewegung in der Linken an Bedeutung. Ob dies in erster Linie mit dem Ende der Arbeiterbewegung als Kulturbewegung und der Zementierung einer institutionalisierten Sozialdemokratie zu tun hatte oder schlicht mit der Aussichtslosigkeit des Unterfangens, sei hier dahingestellt. Die alten Argumente hatten jedenfalls wenig an Gültigkeit verloren: Alkohol diente weiterhin der Realitätsflucht, führte zu politischer Passivität, zerstörte soziale Zusammenhänge und füllte die Kassen der herrschenden Klasse. Das ist freilich nur die eine Seite. Die andere ist, dass viele Menschen aus dem Konsum von Suchtmitteln so viel Freude zu ziehen scheinen, dass sie nicht gewillt sind, ihn aufzugeben. Außerdem muss nicht jeder Konsum von Suchtmitteln zur Sucht führen und überhaupt sind die Fragen zu klären, was Sucht eigentlich ist und warum sie zwangsläufig schlecht sein soll. Trotzdem sind die erwähnten Argumente alles andere als reaktionär.

Sie können reaktionären Charakter annehmen, wenn sie zu Erwartungshaltungen führen, die Moralapostel anderen Menschen selbstgerecht und aggressiv aufzuzwingen versuchen. Aber hier wird der Brei oft zu heiß gegessen. In der heutigen Straight-Edge-Bewegung gibt es meiner Erfahrungen nach relativ wenige Moralapostel. Natürlich lassen sich immer Geschichten von prügelnden Straight-Edge-Crews in Boston oder durchgeknallten Straight-Edge-Mormonen in Salt Lake City herauskramen, aber für die gegenwärtige Szene relevant sind sie kaum. Auch der abtreibungs- und schwulenfeindliche Unsinn der „Hardline“-Ideologen, die in den 1990er Jahren einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Szene ausübten, ist glücklicherweise weitgehend verschwunden. Und auch die jüngeren Versuche extrem rechter Jugendkultur, Straight Edge für sich zu vereinnahmen, sind wieder abgeflaut. Viele Straight-Edger*innen definieren sich stattdessen als Antifaschist*innen und sind in Solidaritätsbewegungen mit gesellschaftlichen Randgruppen involviert. Labels wie Emancypunx und Strömungen wie Queer Edge fordern seit mehr als einem Jahrzehnt die männlichen und heterosexuellen Normen der Szene heraus, was deren Charakter vielerorts stark verändert hat.

Manchmal werden Linke auffällig defensiv, wenn die eigene Drogenfreiheit zum Thema wird. Das Label „Straight Edge“ wird dann gerne zurückgewiesen, um ja nicht mit den Moralaposteln in eine Tüte geworfen zu werden. Tatsächlich kann ein Verweis auf Straight Edge genügen, um den berühmten Veganismus-Effekt zu provozieren: der Verweis reicht aus, um der Selbstgerechtigkeit bezichtigt und langen Verteidigungsreden ausgesetzt zu werden, die man nie verlangt hat. Offenbar werden wunde Punkte getroffen. Dies bestätigt letztlich den Bedarf an einer Diskussion zum Drogenkonsum in der Linken. Die wichtigsten Punkte sind:

1. Warum hört die sonst so gerne vorgebrachte Kritik an kapitalistischer Warenlogik und bösen Großkonzernen bei Alkohol und Nikotin auf?

2. Wie verhält man sich dazu, dass die Selbstverständlichkeit der Konsumtion von Alkohol und Nikotin in linken Räumen viele Menschen von diesen ausschließt?

3. Wie steht es um die Solidarität mit Menschen, deren Leben – direkt oder indirekt – aufgrund der Auswirkungen von Suchtmitteln beeinträchtigt werden?

4. Was ist mit den Argumenten der traditionellen Arbeiterbewegung, denen zufolge Suchtmittel zu Selbstzerstörung und politischer Passivität beitragen?

5. Warum werden Suchtmittel von der Kritik an den „Betäubungsmitteln“ des Systems (Fernsehen, Sport, Shopping u.a.) ausgenommen?

6. Warum ist es selbstverständlich, einen relativ großen Teil individueller wie kollektiver Ressourcen in Alkohol und Nikotin zu investieren, sich aber gleichzeitig über 5-Euro-Konzerte oder 10-Euro-Bücher zu beschweren?

7. Mangelt es wirklich an genug Witz und Kreativität, um Feste und Soli-Veranstaltungen ohne Alkohol auf die Reihe zu kriegen?

Gut, manchen mögen diese Fragen alleine Ausdruck von Selbstgerechtigkeit sein. Das ist schwer zu ändern. Macht aber nicht unbedingt was. Denn eines bleibt: Selbst wenn Genoss*innen Straight Edge einfach nur für bescheuert, lästig, moralinsauer und nie und nimmer links halten, sollten sie froh darüber sein, dass es linke Straight- Edger*innen gibt. Denn: Straight Edge existiert als globale Bewegung seit beinahe vierzig Jahren und es ist nicht davon auszugehen, dass sie so bald von der Bildfläche verschwinden wird. Sie beeinflusst das Leben von Tausenden von Menschen, viele von ihnen jung, engagiert und politisch interessiert. Es findet hier – wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen, die manche von uns interessant und andere völlig uninteressant finden (Fußball, Computerspiele, sonntägliche Fernsehkrimis) – ein politischer Kulturkampf statt, der umso besser ausgeht, je mehr Menschen mit linken Werten in ihnen aktiv sind. Das hilft uns allen.

Gabriel Kuhn
(November 2017)