Am 21. Oktober 1916 erschoss der österreichische Sozialdemokrat Friedrich Adler, Sohn des Gründers der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (der heutigen SPÖ) Victor Adler, im Restaurant des Wiener Hotels Meißl & Schadn den kaiserlich-königlichen Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh. Adler wollte damit gegen die Kriegspolitik einer österreichischen Regierung protestieren, die sich jeder Demokratisierung der politischen Strukturen des Landes verwehrte.
Wenn nun eine Neuausgabe des Protokolls des Prozesses gegen Adler auf einer anarchistischen Website besprochen wird, dann mag die Vermutung naheliegen, dass vor allem der Aspekt der berüchtigten Propaganda der Tat interessiert. Das ist jedoch nicht der Fall. Leser*innen, die diese Website regelmäßiger besuchen, wissen, dass wir die anarchistische Bewegung als Teil einer breiten Linken sehen, mit der wir uns auseinandersetzen wollen, um einen gemeinsamen Kampf voranzutreiben.
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Natürlich bietet sich der Fall Adler auch an, um die Propaganda der Tat zu diskutieren. Das geschah schon in jenen Tagen. Vor allem linke Gegner*innen des Attentats verurteilten Adlers Aktion als „anarchistisch“. Er nahm dazu vor Gericht Stellung:
„Ich habe natürlich nicht die kindische Vorstellung gehabt, daß ich durch meine Tat etwa den Absolutismus in Österreich beseitige oder den Frieden in die Welt bringe. … Der Anarchismus glaubt, daß die individuelle Aktion eine solche Rolle in der Welt spielen kann. Ich habe das nie geglaubt und glaube es heute nicht, sondern ich stehe auf dem Standpunkt des Massenkampfes… Ich stehe heute noch auf dem Standpunkt, dass dieser Massenkampf der entscheidende ist und entscheidend sein muß, und daß meine Tat eine ganz bescheidene Individualaktion gewesen ist, nicht, um den Massenkampf zu ersetzen – das ist mir nicht eingefallen – auch nicht, um den Massenkampf auszulösen… [D]as, was ich wollte, war, die psychologische Voraussetzung künftiger Massenaktionen in Österreich zu schaffen, die Disposition zu ihnen wieder herzustellen. Ich wollte nicht durch meine Tat Revolution machen, davon war gar keine Rede, sondern ich wollte die Möglichkeit einer Revolution erzielen, die Voraussetzungen schaffen...“ (S. 106-107)
Zur „Gewaltfrage“ im Allgemeinen formuliert Adler wichtige Gedanken:
„Wir leben in einer Zeit, wo die Schlachtfelder von hunderttausenden Toten bedeckt sind und zehntausende Menschen in den Meeren liegen. … Aber wenn dann einmal ein Mensch fällt, der die Verfassung in Österreich vernichtet hat, der alles Recht und Gesetz zu Boden getreten hat, wenn einer der Schuldigen an allem Entsetzlichen fällt, da tritt man mir entgegen und sagt plötzlich: heilig ist das Menschenleben! Da erinnert man sich plötzlich an das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten! Meine Herren, diesen Widerspruch habe ich nicht verstanden, und da können Sie reden, was Sie wollen, ich werde ihn nicht verstehen.“ (S. 234)
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Adlers ausführliche Erklärungen zu den Hintergründen seiner Tat sind ein überaus wertvolles historisches Dokument. Sie vermitteln ein eindrückliches Bild der späten Österreichisch-Ungarischen Monarchie, der österreichischen Sozialdemokratie und den gesellschaftlichen Verhältnissen im Lande. Adlers Ausführungen zum „österreichischen Geist“ sowie die Anklagen, die er wegen seiner angeblichen Verunglimpfung des „Österreichtums“ einstecken musste, erinnern an Debatten, die Österreich noch Jahrzehnte später prägen sollten. Erinnert sei nur an die von Thomas Bernhards Theaterstück Heldenplatz im Jahr 1988 ausgelöste Empörung. In welcher Form sich die FPÖ heute einer ähnlichen Rhetorik bedient, braucht hier nicht weiter erläutert werden.
Weit über die Grenzen Österreichs hinaus von Bedeutung ist Adlers Auseinandersetzung mit der Rolle der europäischen Sozialdemokratie während des Ersten Weltkriegs. Seine Ausführungen machen deutlich, wie sehr der „Sozialpatriotismus“, also die Unterstützung nationalistischer Kriegsbestrebungen durch sozialdemokratische Parteien, die ursprünglich internationalistischen Prinzipien der Sozialdemokratie unterminierte und die weitere Geschichte der Bewegung beeinflusste. Dass sich die Unterwerfung der Sozialdemokratie unter die bürgerlich-kapitalistische Ordnung in Österreich, im Vergleich zu anderen Ländern, etwas verzögerte, ist nicht zuletzt seinem Einfluss zu verdanken. Adler weigerte sich, 1918 der neu gegründeten Kommunistischen Partei beizutreten und stützte stattdessen den austromarxistischen Kurs, der die österreichische Sozialdemokratie bis in die frühen 1930er Jahre prägte.
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Pikant am Prozess selbst ist, dass sich Adler von Beginn an gegen die Annahme verwehrt, zum Zeitpunkt der Tat unzurechnungsfähig gewesen zu sein. Damit wendet er sich nicht zuletzt gegen die Strategie seines eigenen Verteidigers. Er hält fest:
„Ich habe diese Tat nicht in Geistesvollwirrung vollbracht. Ich habe diese Tat mit Überlegung vollbracht. … Ich habe diese Tat vollbracht in dem vollkommen klaren Bewusstsein, daß damit mein Leben abgeschlossen ist. … [I]ch war überzeugt …, daß es … nur ein Ende geben, dass der Gerichtshof, vor den ich gestellt werde, kein anderes Urteil fällen kann, als meine Verurteilung zum Tode durch den Strang.“ (S. 61)
Dies erklärt, warum Adlers Prozess ein Paradebeispiel für die Nutzung des Gerichtssaals als politische Bühne ist. Adler spricht offen und ausführlich über seine Beweggründe, ohne jede Selbstzensur. Seine politischen Überzeugungen sind geprägt vom Glauben an den Klassenkampf, vom Widerstand gegen den Imperialismus und vom Bekenntnis zur Revolution. Den sozialdemokratischen Parteivorstand klagt er an, zu einer „konterrevolutionären Instanz“ verkommen zu sein (S. 103). Die Führer der Partei bezeichnet er als „politische Parvenüs und Geschäftsleute größeren und kleineren Stils“ (S. 130). Seinen konsequenten Antinationalismus fasst er in der Aussage zusammen: „Ich gestehe Ihnen, meine Herren, daß ich am Anfang des Krieges eine ebenso große Angst gehabt habe vor dem Siege wie vor der Niederlage“ (S. 101).
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Adler wurde, wie erwartet, am 19. Mai 1917 zum Tode verurteilt. Wenig später wurde das Urteil in eine achtzehnjährige Haftstrafe umgewandelt. Im November 1918 war Adler wieder auf freiem Fuß: inmitten der Turbulenzen, die das Ende des Ersten Weltkriegs und der Monarchie brachten, wurde er vom Kaiser begnadigt. Ins Exil zwang ihn schließlich die Machtübernahme der Nazis zwanzig Jahre später.
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Es ist dem Promedia Verlag hoch anzurechnen, dieses ungemein wertvolle Dokument wieder aufgelegt zu haben. Die Ausgabe wurde von den Herausgeber*innen Michaela Maier und Georg Spitaler vorbildlich betreut. Ihre Einleitung umreißt den historischen Rahmen, in dem das Protokoll zu lesen ist, ohne auszuufern oder sich in akademischer Selbstdarstellung zu ergehen. Der Text selbst wird von ebenso hilfreichen wie unaufdringlichen Anmerkungen begleitet. Allen, die sich für die politische Geschichte Österreichs, die Geschichte der Sozialdemokratie, aber auch für Fragen revolutionärer Taktik interessieren, sei die Lektüre ans Herz gelegt.
Gabriel Kuhn
(August 2017)
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