Das Interesse an den Verbindungen zwischen Anarchismus und Christentum ist in den letzten Jahren weltweit gestiegen. In England hat der Politologe Alexandre Christoyannopoulos mit seiner Studie Christian Anarchism: A Political Commentary on the Gospel (2010) einen akademischen Meilenstein gesetzt, in den USA wird auf der Website jesusradicals.com rege gepostet, in Ländern wie Frankreich oder Schweden sind neue Bücher zum Thema erschienen (L'anarchisme chrétien bzw. Att hoppas på ett annat system. En antologi om kristen tro och anarkism) und in zahlreichen weiteren Ländern, von Irland bis Neuseeland, organisieren sich christlich-anarchistische Gruppen. In diesem Kontext kommt es mehr als gelegen, dass nun mit dem von Sebastian Kalicha herausgegebenen Band Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung auch eine aktuelle deutschsprachige Publikation zum Thema vorliegt.
Erfreulich ist dabei vor allem, dass Kalicha wesentlich um eine Bereicherung der deutschsprachigen Debatte bemüht ist und sich nicht auf eine Zusammenfassung der bisher erschienenen Literatur beschränkt. So kommt der bedeutendsten mit dem Begriff des christlichen Anarchismus verbundenen Persönlichkeit, Leo Tolstoi, nur beschränkte Aufmerksamkeit zu, während wichtige historische Figuren wie Peter Chelčický Würdigung finden und mehrere Texte erstmals im Deutschen zugänglich sind.
Zu Letzteren zählt etwa das aus der Studie Christoyannopoulos' übernommene Kapitel "Die Bergpredigt – ein christlich-anarchistisches Manifest. Ausgewählte Passagen libertär interpretiert". Politischer Bibel-Exegese widmet sich auch der Aufsatz des australischen Aktivisten Dave Andrews, "Die subversive Spiritualität der Christi-Anarchy. Eine Studie zu radikaler biblischer Politik". Sehr interessante Originalbeiträge kommen von Simon Moyle und Tom Cornell. Moyle, ein Baptist aus Melbourne, berichtet in "Christlicher Anarchismus. Überlegungen zu Theorie und Praxis" von Aktionen christlicher AnarchistInnen in Australien und Neuseeland und erläutert die diesen zugrunde liegenden Überzeugungen. Cornell präsentiert eine für den deutschsprachigen Raum überfällige Skizze der 1932 in den USA gegründeten Catholic-Worker-Bewegung und ihrer bekanntesten Mitglieder Dorothy Day und Ammon Hennacy. Weitere Beiträge beinhalten eine Auseinandersetzung mit dem Denken von Jacques Ellul, verfasst von Lou Marin, und die erwähnte Studie Chelčickýs, die der Herausgeber in Zusammenarbeit mit Gustav Wagner beisteuert.
Der vielleicht anregendste Text des Bandes ist der von Kalicha unter dem Titel "Dimensionen libertärer Exegese. Reflexionen zum Verhältnis von Anarchismus und Christentum" verfasste Überblick über die Thematik. Hier werden sowohl das historische Verhältnis von Anarchismus und Christentum aufgerollt als auch die darin wesentlichen Fragen erörtert: die Rolle der Kirche, christliche und anarchistische Ethik, die Bedeutung Jesus Christus und das Gottesverständnis.
Die gesammelten Beiträge bringen unterschiedliche Haltungen und Auffassungen zum Ausdruck. Trotzdem ziehen sich einige rote Fäden durch das Buch, vor allem pazifistische Ideale, das Bemühen, die eigene politische Haltung religiös/spirituell zu verankern, und ein damit verbundenes philosophisches bzw. holistisches Anarchismusverständnis. Neben feministischen Perspektiven bleiben mir persönlich pantheistische Gottesvorstellungen etwas unterbelichtet, was allerdings mystischen Interessen geschuldet ist, die den Rahmen des Christentums schnell sprengen können.
Sebastian Kalicha definiert seine Absicht als Herausgeber so: "Die Intention dieses Sammelbandes besteht … auch darin, unter nicht-religiösen AnarchistInnen ein Bewusstsein für libertäres Christentum, für progressive und anarchistisch inspirierte Strömungen in der christlichen Community zu schaffen und so argumentativ gegen unreflektierte und reflexartige Schnellschüsse gegen alles Religiöse und Christliche aufzutreten. Eine ebenso wichtige Absicht des Buches ist es, ChristInnen eine weitere, progressiv-radikale Facette, sowie eine alternative Interpretation ihres Glaubens näher zu bringen und sie auf einen wenig beleuchteten subversiven Charakter, der dem Christentum heute wie damals potentiell innewohnt, hinzuweisen. Menschen, die sich bereits als christliche AnarchistInnen verstehen, soll dieser Band als Ressource, Nachschlagewerk und Diskussionsbeitrag dienen, von denen es in deutscher Sprache ohnehin nur sehr wenige gibt." (8-9)
Es bleibt zu hoffen, dass das Buch all diese Gruppen erreicht. Es weiß zweifellos, spannende Diskussionen anzuregen. Christlicher Anarchismus ist eine wichtige Veröffentlichung zur richtigen Zeit.
Gabriel Kuhn
(Dezember 2013)
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